Dieser Artikel wurde von einer der Gründerfamilien der Selbsthilfegruppe verfasst – und beschreibt, wie Betroffene vor ca. 20 Jahren mit der Diagnose „XP“ alleine gelassen wurden. Eine Konsequenz der u.a. Erfahrungen war letztendlich die Gründung dieser Selbsthilfegruppe. Unser Ziel ist es, den Betroffenen viele der beschriebenen Probleme zumindest zu erleichtern. Wir wollen diesen Artikel hier bewusst unverändert stehen lassen, um „neuen“ Betroffenen zu zeigen, dass viele der Fragen, die sie sich stellen, nicht einzigartig sind.

Der Name des Betroffenen wurde geändert, „Simon“ ist nicht sein echter Name. Und „Simon“ ist heute erwachsen, lebt in einer Beziehung und hat einen Beruf. Er hat seinen Weg im Leben gefunden.

Unser individueller Schicksalsschlag mit XP

Wie es uns gelungen ist, aus Simon, dem Mondscheinkind, ein Tagkind zu machen!

Eigentlich waren wir eine ganz normale deutsche Durchschnittsfamilie. Bis zu dem Tag, an dem mir eine kleine Warze auf dem Nasenrücken von Simon, meinem Sohn, aufgefallen ist. Komisch, wieso bekommt er an dieser Stelle eine Warze mit knapp einem Jahr?
Bei der nächsten Vorsorgeuntersuchung werde ich es mal ansprechen – so meine Gedanken. Der Kinderarzt überwies mich dann mit ihm zum Hautarzt und machte diesen Besuch auch ziemlich dringend. Und dann ging alles ganz schnell. Der Hautarzt machte gleich einen OP-Termin im Krankenhaus, wo diese „Warze“ entfernt und zugleich eine Gewebeprobe der Haut entnommen wurde. Es stellte sich schnell heraus, dass diese „Warze“ keine Warze, sondern bereits ein Stachelzellkrebs (Hautkrebs) war. Ein aufgescheuchtes Huhn wirkte gegen mich harmlos– ich lief nur noch ferngesteuert durch die Gegend. Von irgendwelchen seltenen Krankheiten war die Rede, ich war fertig mit der Welt. Ich versuchte mich zu beruhigen – erst mal das Ergebnis der Gewebeprobe abwarten. Mein Simon ist doch erst 1 Jahr alt und hat schon Hautkrebs – da stimmt doch was nicht. Noch drei lange, psychisch fast nicht auszuhaltende Monate mussten wir warten, bis uns dann, es war im Frühjahr 1997, die absolut niederschmetternden Diagnose mitgeteilt wurde: Simon, damals knapp über ein Jahr alt, hat die sehr seltene Erkrankung XP = Xeroderma pigmentosum, im Volksmund: Simon ist ein Mondscheinkind.
Ihm fehlt durch eine genetische Veränderung ein Enzym in den Hautzellen. Dieses Protein repariert bei gesunden Menschen die Schäden in den Zellen, die das täglich UV-Licht und dessen Strahlung verursacht. Um Hautkrebs zu vermeiden, darf Simon ohne Schutz erst ab der Dämmerung nach draußen. Die Haut von Simon ist ungefähr 2000 mal empfindlicher auf Licht als bei gesunden Menschen.
Die Schulmediziner lasen uns gelassen cool aus einer Broschüre vor, wie wir uns ab sofort zu verhalten haben:

  • Gehen Sie mit ihrem Kind tagsüber nicht mehr nach draußen.
  • Ändern Sie ihren Tag-Nacht Rhythmus: Schlafen sie tagsüber und werden sie zu Nachtaktiven.
  • Geben Sie Ihre „Tages“-Jobs auf und arbeiten Sie ab sofort nur noch nachts.
  • Wenn sich bei Simon Tumore entwickeln, dann müssen diese sofort operativ entfernt werden.
  • Durch das Entfernen der Tumore läßt sich eine Entstellung der Patienten mit der Zeit nicht vermeiden.
  • da er nicht raus darf, wird er nie einen Kindergarten besuchen können. Auch ein Schulbesuch ist aus diesem Grunde ausgeschlossen, er wird einen Hauslehrer brauchen
  • XP Menschen sind sehr einsame Menschen, finden sie sich damit ab
  • Tja, und zu Letzt: XP Kranke haben nur eine geringe Lebenserwartung.

Einziger „Lichtblick“ in diesem Schlamassel war, so die Schulmediziner, dass die UV-Strahlung durch die normalen Fenster nicht durch kann, Simon also in geschlossenen Räumen sicher ist. Spätestens jetzt zählten wir nicht mehr zu einer ganz normalen deutschen Durchschnittsfamilie. Mein Mann resignierte, ich hatte komplett kapituliert und unsere damals 5 jährige gesunde Tochter Magdalena merkte sehr wohl, dass hier irgendetwas nicht mehr stimmte, konnte aber altersbedingt noch nichts mit diesem Familienzusammenbruch anfangen.

Erfahrungsaustausch bzw. Selbsthilfegruppen waren nicht zu finden, diese Krankheit ist so selten, es gibt in Deutschland nur ca. 50 Erkrankte, in den USA dürften es knapp über 100 sein, weltweit ca. 2000 Betroffene, von denen aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein großer Teil nicht mal weiß, an welcher Krankheit er genau leidet.

Nach ca. 1 Monat kompletter „Totenstarre“ rüttelten mein Mann und ich uns förmlich wach und begannen mit einer sagenhaften, genialen Revolution mit dem Umgang dieser Krankheit. Von einer starken, inneren Kraft getrieben haben wir uns auf diesen, unseren Weg nach oben Richtung Gipfel gemacht. Allerdings ging es nicht von heute auf morgen. Es waren immer wieder mal kleinere, mal größere Schritte, die wir bezwangen, sodass wir uns heute bildlich gesehen, nach 18 Jahren auf einem sicheren Absatz knapp unter dem Gipfel sehen dürfen. Ein steiler, steiniger, rutschiger, zwischendrin auch sehr gefährlicher, absolut anstrengender, zur rechten Zeit auch ein rückschlägiger Weg ist es gewesen.

Was ist passiert?

Wir haben als Einzelkämpfer aus unserem Nachtkind ein Tagkind gemacht.
Anfangs allerdings waren uns die Angaben der Schulmediziner noch „heilig“ – diese Halbgötter in weiß müssen es ja schließlich wissen. Wir gingen mit Simon tatsächlich nur noch ab der Dämmerung nach draußen. (Im Winter um ca. 17.00 Uhr / im Sommer erst ab 21.00 Uhr.) Was hatte er für eine Freude im Winter im Dunkeln den Schlittenberg runter zu fahren oder mit Unterstützung des Hoflichts einen Schneemann zu bauen. Im Sommer spielte er dann so um Mitternacht im Sandkasten. Dort baute er mit Mama oder Papa (wir trennten uns immer – einer musste ja bei unserer Magdalena bleiben, die zur Normalzeit ins Bett ging) eine Sandburg. Damit er diese auch sehen konnte, haben wir ihm mit Taschenlampen geleuchtet. Für meinen Mann und mich eine unerträgliche Situation, für Simon lustig und toll, er kannte es ja nicht anders. Juchzend schaukelte er und rutschte vor Freude quietschend die Rutsche runter. Alleine mitten in der Nacht – Tja, was für ein Spaß! Sogar das Einkaufen tagsüber wurde zum Problem. Ich durfte ja nicht mit ihm raus. Und mein Mann war arbeiten. Somit bestückte ich Nachbarn und Freunde mit meinen Einkaufszetteln, die mir dann alles nach Hause lieferten. Meine Tochter mußte um 12.00 Uhr vom Kindergarten abgeholt werden – ja, wie denn?? Grade um diese Zeit ist die UV-Strahlung am höchsten. Auch hier hatte ich meine Helfer, die mir Magdalena nach Hause brachten und wenn ich mal gar keinen auftreiben konnte, wickelte ich Simon komplett in ein großes Badehandtuch ein und fuhr los. Ein Wahnsinn war das… Diesen Wahnsinn haben wir ganze zwei Jahre durchlebt…

Schritt für Schritt haben wir uns dann aus diesem Wahnsinn befreit: Durch Eigeninitiative haben wir ein Messgerät gefunden, um diese für Simon sehr gefährliche UV-Strahlung zu messen und um zu testen, ob alle Schutzmaßnahmen UV-sicher sind. Wir haben ihm selber einen „Helm“ konstruiert, welcher sein Gesicht, Kopf und Nacken schützt. (die Schutzfolie hierfür ist von der Firma Renolit aus Worms), UV-sichere Schutzklamotten liefert uns die Firma Hyphen aus München.

Seine Hände schützen wir mit Baumwoll-Reiterhandschuhen aus einem Reitsportgeschäft bei uns um die Ecke. Unsere, die Auto- und die Schulfenster sind mit UV-Schutzfolie abgeklebt, welche nur die UV-Strahlung filtert, dass normale Licht aber durchläßt. Dank unserem Meßgerät konnten wir den Schulmedizinern das Gegenteil ihrer Aussage beweisen: Alle Fenster lassen nämlich UV-Strahlung durch und sind für XP-Kranke ganz und gar nicht sicher. Wir schmieren Simon mit einer Creme mit dem höchsten Lichtschutzfaktor 50+ ein, Er trägt zudem eine Sonnenbrille mit UV-Schutzfilter.
Außer diesen Schutzmaßnahmen habe ich damit angefangen, sehr viel mit und an seiner Psyche zu arbeiten.

Und nun stehen wir bildlich gesehen auf einem sicheren Absatz kurz unter dem Gipfel und sind erst mal kräftig am Verschnaufen. Wir haben auf diesem Weg nach oben hart gekämpft und gearbeitet. Streckenweise ganz auf uns allein gestellt, von starken Gewittern umgeben – dann wieder mit viel Unterstützung durch unser Umfeld, sodass wir heute auf 15 Jahre Wegstrecke von ganz unten nach oben – im wahrsten Sinne des Wortes, von der Dunkelheit ans Licht und vor allem sehr zum Staunen der Schulmediziner stolz berichten können:

  • Simon besuchte einen normalen Kindergarten
  • Simon besuchte eine normale Grundschule – war sogar mit im Schullandheim  !
  • Simon ging auf die Realschule, wie auch schon in der Grundschule, sind dort die Fenster mit UV-Schutzfolie versehen.
  • Simon geht am Nachmittag mit seinen Freunden draußen spielen
  • Simon spielt Fußball im Verein (darf lt. Bayr. Fußballverband auch an Punktspielen teilnehmen).
  • Simon spielte bei Sonnenschein in Belgien am Meer
  • Simon nimmt an vielen außerhäuslichen Veranstaltungen teil. (Vom Sommerrodeln bis hin zu Fußball-Bundesligaspielen in der Allianz-Arena, Besuch von Freizeitparks etc.)
  • Heute macht Simon eine Lehre zum Sport- und Fitnesskaufmann.

Zudem haben XP-Kranke eine annähernd normale Lebenserwartung. Es dreht sich halt alles nur um Schutz. Je mehr sie sich schützen, umso weniger Tumore können sich entwickeln und umso länger werden sie leben.

Die Schulmediziner beglückwünschen uns mittlerweile zu unserem Leben mit Sonnenschein. Sie verwenden und holen sich gerne Infos von uns für das praktische Leben mit XP für neue Patienten.

Ich möchte auch noch stolz erwähnen, dass Simon bis jetzt erst einen Stachelzellkrebs (Hauttumor) und ein bösartiges Karzinom hatte. Was für diese Krankheit ungewöhnlich wenig ist. Wir kennen Patienten, die 50-100 mal im Jahr an Tumoren operiert werden. Und deshalb finde ich, dass es bis jetzt so aussieht, als wären wir auf dem richtigen Weg…

Vier persönliche Wünsche die ich noch anbringen möchte:

Ich wünsche mir von unseren Mitmenschen etwas mehr Verständnis. Simon wird wegen seinem Outfit sehr viel gehänselt. Ja, er sieht anders aus wie alle Anderen. Es verletzt ihn und mich sehr, wenn die Leute mit dem Finger auf ihn zeigen und ihn auslachen. Aber viel schlimmer noch sind die saublöden Kommentare (meist von Erwachsenen) wie: „Schaut mal, da kommt ein Marsmensch!“ , oder „na du kleiner Imker, wo sind denn deine Bienen?“, oder „Hey, da geht Ritter Kunibert!“ oder „Hilfe, wo brennt`s denn, der Feuerwehrmann ist schon da!“ usw. usw.

Ich wünsche mir von unserer Bundesregierung eine Gesetzesänderung, bzw. eine Ausnahmeregelung für alle Patienten, die nur mit Lichtschutz überleben können. Es kann und darf nicht sein, dass die Krankenkassen frei entscheiden dürfen, bei wem der Lichtschutz bezahlt wird und bei wem nicht. Mit dieser Krankheit leben zu müssen ist schon schlimm genug. Dass wir aber um Kostenübernahme für Lichtschutz mit den Kassen kämpfen müssen (und meistens die Kämpfe auch verlieren), verletzt uns sehr. Zudem sind die Kosten für Lichtschutz weitaus geringer als die Kosten der Krankenhausaufenthalte, die nötig sind, um den Patienten die Tumore zu entfernen!

Ich wünsche mir eine schnellere Erforschung dieser Krankheit und dadurch eine schnellere Entwicklung eines wirksamen Medikaments. Mir dreht sich wirklich der Magen um, wenn ich höre, dass sich aus Geldmangel verschiedene med. Studien nicht finanzieren lassen…. und ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass mein Mondscheinkind ein so temperametvoller, quirliger, lustiger und vor allem liebenswerter Sonnen-„teenager“ bleibt…